Scudellate, La Casa dei Gelsi
Auf den Spuren der Schmuggler
Vom Tessin habe ich schon viel gehört: italienische Lässigkeit gepaart mit schweizerischer Gründlichkeit, mediterrane Städtchen, wunderschöne Seen, hohe Berge und romantische Täler. Bisher bin ich nie dort gewesen. Also nehme ich mir vor, etwas Besonders aus dieser Reise zu machen und auf unbekannten Pfaden zu wandeln. Und so führt mich meine Entdeckungstour zuerst in die südlichste Ecke des Kantons Tessin – ins Muggiotal.
Ein bisschen Entspannung würde mir guttun – da ist das ruhige, grüne Tal nahe der italienischen Grenze genau das Richtige. Meine Unterkunft soll diesmal kein klassisches Hotel sein, sondern: das Albergo Diffuso „La Casa dei Gelsi“ im kleinen Tessiner Bergdorf Scudellate am Ende des „Valmütsch“ (Dialekt für Muggiotal).
Um umweltfreundlich zu reisen, nehme ich den Zug – und darf „dank“ aktueller Baustellen sechs Mal (!) umsteigen. Doch auf die schweizerische Pünktlichkeit ist Verlass – jeder Anschluss klappt beinahe auf die Minute genau. In Mendrisio empfängt mich Oscar Piffaretti, einer der Inhaber der Casa dei Gelsi, mit dem E-Auto. Über enge Serpentinen gelangen wir schließlich in das 900 Meter hoch gelegene Schweizer Dorf. Eigentlich wähne ich mich schon in Italien, alles hier ist sehr mediterran, Schwyzerdeutsch hört man nicht mehr. Gut, dass Oscar neben Italienisch auch noch drei weitere Sprachen fließend beherrscht und wir uns problemlos unterhalten können.
Rettung verlassener Bergdörfer mit einem wagemutigen Hotelkonzept
Im idyllischen Dorf Scudellate angekommen, checke ich nach einem herzlichen Empfang erst einmal in der Osteria Manciana ein. Die Osteria ist Treffpunkt, Restaurant und Herberge zugleich – zwei großzügige Zimmer und ein Appartement laden hier zur Übernachtung ein. Es gibt ein weiteres Appartement im Ort und etwas weiter oben eine Berghütte, die Alpe di Caviano. Die Gäste können quasi Zimmerhopping machen und ihre Zeit in verschiedenen Unterkünften verbringen. Praktisch: das Gepäck wird gebracht.
Mein Zimmer befindet sich in der La Casa dei Gelsi und ist nur wenige Schritte von der Osteria entfernt. In der Panoramalodge mit sensationellem Blick ins Tal befinden sich drei Doppelzimmer und drei zweistöckige Suiten. Die Räume sind individuell mit ausgesuchten Stücken möbliert. Das Kopfteil meines bequemen Doppelbetts besteht aus alten, bemalten Holzpaneelen, der Blickfang im Zimmer ist ein sehr gut erhaltener original Tessiner Bauernschrank. Die Mauern, mit Steinen vom Monte Generoso erbaut, wurden teilweise erhalten und harmonisch in die sanierten Zimmer integriert. Das kunstvoll handgefertigte Keramikwaschbecken im modernen Bad hat mir besonders gut gefallen.
Im Gemeinschaftsraum mit dem gemütlichen Kamin steht ein großer Esstisch aus der Toskana auf einem alten Steinboden aus Umbrien. Jede der Platten wurde nummeriert, damit sie am neuen Standort wieder exakt verlegt werden konnten.
Nicht nur das Dorf hat seine Geschichte: Jedes einzelne Stück weiß etwas zu erzählen.
Im Garten vor dem ehemaligen Wohnhaus aus dem 19. Jahrhundert begrüßt mich Claudio Zanini, Mitbegründer des Albergo Diffuso und langjähriger Freund von Oscar Piffaretti. Wir sitzen unter den Schatten spendenden Maulbeerbäumen – auf Italienisch „gelsi“ – die dem Albergo seinen Namen gaben. Bei einem Glas Weißwein aus lokalem Anbau erläutert er mir das Konzept des „verstreuten Hotels“. (Hier geht's zum Interview mit Claudio Zanini in unserem magazin.)
La Casa dei Gelsi – Albergo Diffuso im entspannten Muggiotal
Die Idee, fast verlassene Bergdörfer durch Zimmervermietung vor dem Aussterben zu bewahren, stammt ursprünglich aus Italien. Grundvoraussetzung, ein Albergo Diffuso zu errichten, ist, dass in dem Ort noch einheimische Bewohner leben. So gibt es in Scudellate noch 14 Einheimische, die das ganze Jahr hier verbringen. Dazu kommen die Angestellten und die Gäste des auf mehrere Häuser verteilten „Hotels“.
Es geht hier ruhig und gelassen zu – wie überall in dem 37 km langen archaischen Muggiotal. Von der Terrasse mit Ausrichtung nach Süden bietet sich ein herrliches Panorama über das ganze Tal. Mein Blick schweift über Wälder und sanfte Hügel, hinter uns wacht der Monte Generoso mit über 1700 Metern. Der beliebte Gipfel ist zu Fuß vom Ort aus in ca. 4 Stunden zu erreichen. Oben wartet ein einmaliger Ausblick vom Appennin bis zu den Alpen und auf die norditalienischen Seen bis nach Mailand.
Überhaupt ist die gesamte Region des Muggiotals ein Paradies für Wanderer. Da die Winter immer milder werden, kann man hier auch im Spätjahr noch herrliche Touren machen.
Eine Stiftung schafft Arbeitsplätze und sichert die Dorfgemeinschaft
Mit einem nachhaltigen Konzept gründeten Claudio und Oscar eine Stiftung und begannen 2019 behutsam, die Osteria und das Ostello (eine Jugendherberge im Ort) zu restaurieren. Danach folgte der Umbau der Casa dei Gelsi nach strengen Richtlinien der Denkmalschutzbehörde.
Eine Wärmepumpe erzeugt warmes Wasser und in einem unterirdischen Tank mit 25.000 Litern Fassungsvermögen wird Regenwasser gesammelt. So sorgt Claudio für frisches Gemüse und seine Frau für bunte Blumen im Garten. Der kleine hauseigene Weinberg wird liebevoll gepflegt, auch die Trauben profitieren vom Regenwasser. Das Zitronenbäumchen produziert so viele Früchte, dass die gelben Vitaminbomben zu Limoncello verarbeitet werden können.
Ziel des Albergo Diffuso ist es, neben der Bewirtung und Beherbergung von Gästen, Arbeitsplätze für die Menschen im Muggiotal zu schaffen. Zwei Angestellte meistern den Service und Chefkoch Fabio sorgt in der Küche für das leibliche Wohl der Gäste. Auch beim Kochen wird Nachhaltigkeit großgeschrieben. Für Fabio ist es wichtig, dass die Lebensmittel in Gänze verarbeitet werden und möglichst keine Abfälle entstehen.
Abends kann ich mich in der Osteria Manciana von seiner Kochkunst überzeugen: Seine selbstgemachten Gnocchi sind köstlich, die Pasta gleicht kleinen Kunstwerken und das Ossobuco nach dem Rezept von Mamma Piera wird mit Polenta serviert. Der Mais hierfür wird traditionell in der alten Mühle von Bruzella gemahlen.
Ein weiteres kulinarisches Projekt von Oscar und Claudio ist der „Bricolla“, ein Käse aus Kuh- und Ziegenmilch. Zusammen mit einem fruchtigen Chutney schmeckt dieser würzige Charakterkäse besonders gut.
Auf Schmugglerpfaden nach Italien
Apropos „Bricolla“: Die Käsekreation wurde den Schmugglern zu Ehren nach deren Rucksäcken benannt. Bis weit in die 60er hatten sie hier einen regen Handel mit dem Verkauf von Zigaretten nach Italien aufgebaut und dem Dorf Scudellate zwischenzeitlich zu einem gewissen Wohlstand verholfen.
Zusammen mit Claudio, Hündin Nina und einem Paar aus dem Wallis wandere ich auf einem versteckten Pfad ca. 30 Minuten bis nach Italien ins kleine Dörfchen Erbonne. Claudio weiß viel zu erzählen, er zeigt uns einen alten „Roccolo“: Auf dem Vorplatz des dreistöckigen Gebäudes wurden Singvögel mit Hilfe von Lockvögeln und Vogelattrappen gefangen. Das Tessin war eine der ärmsten Gegenden in der Schweiz, der Fang von Singvögeln zum Verzehr war für die Bevölkerung ein wichtiger Nahrungserwerb.
Im kleinen Museum von Erbonne kann man die Ausrüstung der Schmuggler sehen. Die Rucksäcke aus Jute mussten 30 bis 40 Kilogramm aushalten. Selbst die Schuhe waren aus Sackrupfen, um so lautlos wie möglich über den Waldboden zu gehen. Das wichtigste Utensil eines jeden Schmugglers war ein kleines, halbrundes Messer, um bei Gefahr die Träger des Rucksacks zu durchtrennen und so schnellstmöglich fliehen zu können.
Frühstück mit Adlerbegleitung
Abends in meinem gemütlichen Zimmer liege ich auf der weichen Matratze und lausche aufmerksam auf etwaige Geräusche. Aber nein. Ich kann nichts hören. Nichts. Eine unglaubliche Stille umfängt mich.Das ist zur Ruhe kommen im wahrsten Sinne des Wortes. Nur die Kirchturmuhr zählt die Stunden.
Das Frühstück wird morgens auf der sonnenbeschienenen Terrasse serviert. Frisches Obst, Joghurt mit selbstgemachter Granola, etwas Käse und Schinken, Honig und Marmeladen aus eigener Produktion und ein gutes Brot lassen bei mir keine Wünsche offen.
Nach dem Frühstück bleibe ich gerne noch im Schatten der Maulbeerbäume sitzen, um einen Adler zu beobachten, der seine Runden über dem stillen Tal dreht.
Nach einem Plausch mit Claudios Frau Nilo, die für die bunte Blütenpracht verantwortlich ist, muss ich mich verabschieden. Die herzliche Gastfreundschaft, die Ruhe und Nähe zur Natur und das kleine, gar nicht verlassene Bergdorf werden mir noch lange ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Das Konzept des Albergo Diffuso gefällt mir jedenfalls so gut, dass ich beschließe, mir auch das zweite Dorf dieser Art im Tessin anzuschauen. Dank des Ticino-Tickets, das jeder Hotelgast erhält, kann ich meine Reise kostenlos mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fortsetzen.
Den zweiten Teil meiner „Alberghi Diffusi-Erkundungstour“ im Tessin lesen Sie hier »