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Scudellate – wie ein Schmugglerdorf zum Hotel wurde

12. Januar 2024
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Claudio Zanini und Oscar Piffaretti | Scudellate | luxuszeit.com
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Das Tessiner Muggiotal mit dem kleinen Dorf Scudellate zwischen Comer See und Luganersee ist die südlichste Ecke in der Schweiz, nur wenige Meter von der italienischen Grenze entfernt. Vor 70 Jahren brachte der Schmuggel Devisen und einen gewissen Wohlstand. Doch über die Jahre sank die Einwohnerzahl, die benachbarte Region Mendrisio lockte mit attraktiven Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Häuser in Scudellate verfielen zusehends. Nur 14 Einwohner hielten die Stellung. Dann kamen Oscar Piffaretti und sein Freund und Wegbegleiter Claudio Zanini und beschlossen, aus Oscars Heimatdorf wieder einen lebenswerten, lebendigen Ort zu machen. 


Wie den beiden das geglückt ist und wie sie mit dem Konzept des „verstreuten Hotels“ ein malerisches Dorf im idyllischen Muggiotal retten möchten, erzählt uns Claudio Zanini im Interview.

von Michaela Bienert


luxuszeit: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, aus dem Dorf Scudellate ein Hotel zu machen? 


Claudio Zanini: Vor einigen Jahren kam mein Freund Oscar Piffaretti, der in Scudellate aufgewachsen ist, zu mir und sagte, er hätte da ein Problem. Seine Eltern haben ein gewisses Alter erreicht und könnten die Osteria, den Gasthof des Ortes und die Jugendherberge, das Ostello, alleine nicht länger bewirtschaften. Nur ungern würde Oscar das alles aufgeben wollen. Vor allem das Ostello musste dringend renoviert werden, die sanitären Einrichtungen und die Sicherheitsvorkehrungen entsprachen nicht mehr dem modernen Standard – so konnte man es nicht vermieten. 


Oscar und ich kennen uns seit über 40 Jahren und haben viel gemeinsam erlebt. Zusammen haben wir überlegt, was wir tun könnten. Ein Restaurant allein erschien uns zu wenig, um das Dorf wieder zu beleben. Auch wenn Oscars Frau zufällig aus der Gastronomiebranche kommt und die Osteria hätte übernehmen können. Du musst dort leben, der eine kocht, der andere bedient die Gäste. Wie die Eltern und Großeltern davor. Aber das allein sollte nicht unser Plan sein. 


So habe ich mir zusammen mit meiner Frau Gedanken gemacht, in die Jugendherberge zu finanzieren und daraus einen schönen Platz zu machen. Es war ein guter Zeitpunkt – wir wollten unser Leben ändern, dem alltäglichen Chaos entfliehen. Wir haben in den vorangegangenen Jahren an unterschiedlichen Orten gelebt – Zürich, London, Zug, Istanbul – und die Kinder waren mittlerweile erwachsen.

Scudellate | Schweiz | luxuszeit.com

Scudellate, ein ehemaliges Schmugglerdorf, liegt nahe an der Grenze zu Italien   


luxuszeit: Du warst viele Jahre erfolgreich in der Finanzbranche tätig. Die Karriere scheint dich wohl nicht zu 100 % zufriedengestellt zu haben, sonst wärst du nicht auf die Idee gekommen, etwas anderes zu machen. Was war der auslösende Punkt in deiner Karriere, etwas Neues anzufangen? 


Claudio Zanini: Mit 15 Jahren habe ich im Finanzbereich gestartet, ich war in Chiasso, Lugano, Zug, Basel, Zürich, London und Istanbul. Nach 20 Jahren in der Bank als Trader hatte ich verstanden, was ich Tag für Tag mache: Ich generiere Geld aus Geld. Ehrlich gesagt hatte ich auf einmal das Gefühl, in meinem Leben bis dato nichts wirklich Wertvolles getan zu haben.

Der Industrie ging es damals zunehmend schlechter, ich habe gesehen, was kommt, ich war ja Teil dieser Welt.   


luxuszeit: Wann bist du ausgestiegen?


Claudio Zanini: 2001 habe ich komplett aufgehört. Es heißt ja immer „Once a dealer, always a dealer“. Nie hätte ich gedacht, dass es mir gelingt, aus der Branche auszusteigen. Zwar habe ich nicht alle Kontakte von heute auf morgen beendet, trotzdem sind nur wenige wirkliche Freunde geblieben. Einer davon ist Oscar.   


luxuszeit: Hattest du damals schon konkrete Pläne für deine weitere Zukunft? Die Idee des Albergo Diffuso kam ja erst viel später. 


Claudio Zanini: Ich habe mir Zeit genommen und überlegt: Was könnte ich machen? Was ist wichtig? Ich habe zwei konkrete Dinge gefunden, die wirklich essenziell sind: Energie und Wasser. Die Branche „Wasser“ ist sehr kompliziert, von dieser Idee hatte ich mich schnell verabschiedet. In erneuerbare Energien einzusteigen war damals für Privatunternehmer noch möglich. 


In Spanien habe ich bei einem Abendessen Deutsche aus Berlin und München kennengelernt. Sie sprachen über Investitionen in erneuerbare Energien, über Wind- und Solarenergie. Das hat mir gefallen, ich habe mich informiert und mit zwei Leuten, einem Ingenieur und einer Sekretärin, eine Firma aufgebaut. 


Später waren wir in Deutschland und in der Schweiz bis zu 50 Mitarbeiter – Oskar war zwischenzeitlich auch wieder mit an Bord – wir hatten Niederlassungen in Griechenland und Italien. Wir haben Windkraftanlagen entwickelt und gebaut, wir waren die größte private Gesellschaft in der Schweiz. Und dann kam 2011 Fukushima. Plötzlich haben alle den Wert von erneuerbarer Energie erkannt. Und da waren wir als Unternehmen dann zu klein, um uns gegen die großen Konzerne der Schweiz zu behaupten.

Letztendlich musste ich alles verkaufen. Diese Geschichte hat mich sehr verändert – auch wenn ich die zweite Phase meines beruflichen Lebens als sehr interessant und lehrreich empfunden habe.

Ostello | Osteria Manciana | Schweiz | luxuszeit.com

Blick vom Ostello auf die Osteria Manciana


luxuszeit: Dann kam der Zeitpunkt, an dem Oscars Eltern das Restaurant und die Jugendherberge aufgeben wollten, gerade recht, oder? 


Claudio Zanini: Ja, irgendwie schon. Es war die richtige Zeit, mit dem Projekt „Albergo Diffuso“ zu starten.

Heute bin ich zufrieden. Ich kann etwas arbeiten und Leute in einer schönen Umgebung treffen. Hier gibt es keine Hektik, keinen Stress – das liegt an dem herrlichen Platz. Das tut mir gut. Meine Frau hat sich zum Glück entschlossen, mitzumachen. Aber sie möchte auch Zeit für sich selbst (lacht).   


luxuszeit: Was waren die nächsten Schritte bei der Umsetzung eures Plans, Scudellate wiederzubeleben? 


Claudio Zanini: Zusammen mit der Tourismuschefin und Freunden haben wir ein Brainstorming gemacht. Jeder hat seine Ideen vorgestellt. Wichtig war auch die Frage: Wie kann uns die öffentliche Seite helfen?

Der Kanton Tessin und die Berghilfe haben zugestimmt, uns zu unterstützen. Daraufhin haben wir eine Firma in Zug mit einer Studie hinsichtlich touristischer Erfolgschancen beauftragt.

Die Voraussetzungen für unsere Region, das Dorf, waren gut: Wir hatten die Straße und einen schönen Standort. Und wir zahlten auf den Trend zu mehr Nachhaltigkeit und Achtsamkeit ein. Solch ein Ort ist auf einen bestimmten Tourismus begrenzt, auf Ruhe und Natur. 


Auf Basis dieser Studie haben wir drei Standorte für unser Albergo Diffuso ausgemacht: Scudellate, Casima und die Alpe di Caviano (Berghütte).

 

luxuszeit: Wie wollt ihr verhindern, dass zu viele Touristen angezogen werden und so die Einzigartigkeit des Tals verloren geht? 


Claudio Zanini: Bei uns kann es keinen Massentourismus geben. Wir haben ja gar nicht den Platz für Hunderte von Parkplätzen!   


luxuszeit: Wie finanziert sich so ein aufwendiges Projekt? 


Claudio Zanini: Die Finanzierung war sehr komplex. Die Struktur, wie alles funktionieren sollte, wer mit dabei sein sollte, welche Gesellschaftsform, etc. – all das hat uns viel Arbeit gekostet. Wir hatten unser Eigenkapital, der Kanton und die Berghilfe haben uns unterstützt, aber wir haben keine Bank gefunden, die uns Geld geben wollte. Die Großbanken hatten kein Interesse. Die sehen dich als Zitrone, die wollen nur den Saft und fertig. Sie sagten, wir müssten unser Privatvermögen investieren. Die Tessiner Kantonalbank sollte uns eigentlich unterstützen, sie meinten aber, das Val di Muggio sei tot. Verzascatal und Valle di Maggia – ja, gerne. Aber bitte nicht das Muggiotal. Das war keine schöne Aussage.

Dann haben wir durch Zufall eine Bank in Olten gefunden. Sie finanziert jetzt alle Projekte.


Ich selbst kaufte zwei Häuser in Scudellate, in denen sich jetzt die Casa dei Gelsi befindet. Anschließend haben wir die Gesellschaft gegründet und 2019 renovierten wir zuerst die Osteria und dann das Ostello. Im Juni 2021 konnten wir die Osteria Manciana eröffnen.Parallel dazu haben wir meine beiden Häuser renoviert, die Casa dei Gelsi wurde 2023 eröffnet. Nächstes Jahr wird die Alpe di Caviano an der Südseite des Monte Genoroso fertig werden und anschließend wird in Casima ein weiterer Standort geschaffen.

Terrasse | La Casa die Gelsi | Schweiz | luxuszeit.com

Ob Frühstück oder Aperitif – die Terrasse der La Casa die Gelsi mit den Schatten spendenden Maulbeerbäumen ist ein beliebter Treffpunkt    


luxuszeit: Seid ihr ein Vorbild für andere? 


Claudio Zanini: Ich weiß nicht, vielleicht eher Auslöser. Es gibt inzwischen einige Leute, die hier etwas machen. Es ist, als ob das ganze Muggiotal erwacht. Unsere Überlegung, auch oben im Talschluss mit der Alpe di Caviano etwas zu machen, war strategisch richtig. So wird das ganze Tal für Besucher attraktiv und nicht nur ein kleiner Abschnitt davon.

Das ist unser Konzept: Wir öffnen das Tal und damit die Region. Wir sind nur 30 Minuten von einer der Hauptrouten Europas entfernt, nur eine Stunde vom Mailänder Flughafen Malpensa und du findest hier eine solche Ruhe. Da gibt es nicht mehr so viele Plätze. 


Unser Ziel ist es, dass die Gäste nicht nur drei Tage, sondern mindestens eine Woche bleiben. 


Allerdings beobachte ich auch anderswo, dass Touristen kaum noch eine Woche am Stück am selben Platz verbringen wollen, dann eher schon sieben Tage in der gleichen Region.

Mit unseren verschiedenen Locations und Standorten kommen wir diesem Wunsch nach. Gäste können beispielsweise zwei, drei Tage in der Casa dei Gelsi oder in der Osteria Manciana übernachten und sich danach ein paar Tage oben auf der Alpe di Caviano aufhalten. Oder in Casima. Um das Gepäck beim Unterkunftswechsel kümmern wir uns. 


Ich möchte gerne, dass Menschen aus aller Welt den Weg zu uns finden und sich hier wie zuhause fühlen. Dann kommen sie wieder.   


luxuszeit: Was sagen die verbliebenen Einwohner zum Erwachen ihres Dorfes? 


Claudio Zanini: Die Mehrheit im Dorf und im Tal unterstützt uns. Am Anfang waren sie skeptisch: Da kommen plötzlich welche von draußen! Aber als sie gesehen haben, was wir machen, haben sie verstanden, dass das gut für Scudellate ist, der Ort bekommt mehr Wert. Sie leben hier seit drei Generationen und plötzlich wird ihr Heimatdorf in Zeitungen erwähnt, fast jeden Monat kommt das Fernsehen, sogar die NZZ berichtete darüber – das macht sie stolz. Heute leben im Dorf noch 14 Einheimische – zu Spitzenzeiten Anfang, Mitte des 20. Jahrhunderts waren es ca. 150 Menschen.

Die meisten sind alt, aber sie helfen uns, wo sie können. Sie genießen das auf jeden Fall.   


luxuszeit: Ihr wollt langfristig das Muggiotal auch wieder für junge Familien attraktiv machen. Schön wäre ja, wenn in den alten Häusern nicht nur Gäste einige Tage verbringen würden, sondern dass das Dorf auch einheimischen Familien wieder zur Heimat wird. Kommen junge Leute? 


Claudio Zanini: Schwierig zu sagen – wir hoffen es. Aber es wird dauern, vielleicht in 10 oder 20 Jahren. Es gibt heute so viele Möglichkeiten und der Standort ist nicht für jeden geeignet. Nicht jeder möchte an so einem ruhigen Ort leben. Für junge Familien musst du gewisse Dienstleistungen parat halten, Erziehung, medizinische Versorgung, etc. Eine Schule haben wir, die ist 20 Minuten entfernt. Bei gesundheitlichen Problemen ist der Helikopter in kurzer Zeit hier. 


Damit neue Bewohner kommen, musst du Arbeitsplätze schaffen, das geht hier aber nur im Tourismus oder in der Landwirtschaft.

Wenn wir sämtliche Bauabschnitte fertig haben, können wir uns um weitere Aktivitäten kümmern, wie Yoga in der Natur, Natur- und Bergführungen, Bike’n’Wine-Touren, neue Restaurants, etc. Damit können wir neue Arbeitsplätze im Tourismus, Service oder in der Küche schaffen. Homeoffice würde jetzt schon funktionieren – aber nicht jeder kann von zu Hause aus arbeiten …  

Gemüsegarten | Scudellate | Schweiz | luxuszeit.com

Der Gemüsegarten wird mit Regenwasser gegossen, das in einem unterirdischen Tank gesammelt wird


luxuszeit: Kommen wir zu den nachhaltigen Aspekten des Projekts. Ihr habt einen Gemüsegarten angelegt, baut eigenen Weißwein an und hegt die Maulbeerbäume. Seit 100 Jahren wurde kein Haus mehr im Dorf neu erbaut. Die Gäste, die zu euch kommen, haben aber moderne Ansprüche. Sie möchten frische Wäsche, wollen täglich duschen, erwarten perfekten WLAN-Empfang etc. – und erzeugen Müll und Abwasser.

Wie schafft ihr den Spagat zwischen modernem Leben, Bewahrung von Tradition, Erhaltung der Natur und zufriedenen Gästen? 


Claudio Zanini: Wir sind mitten in der Natur, bei uns muss alles bio sein. Der Kanton passt auch auf: Die Region hier ist streng geschützt. Alle Neubepflanzungen müssen vom Kanton genehmigt werden. Jede Blume, jede Weinsorte, alles … 


Auch unser Chefkoch Fabio legt in der Küche großen Wert auf Nachhaltigkeit. Er wirft so gut wie nichts weg, manchmal bin ich erstaunt, was er alles verwendet. Aber er ist sehr gut, ich lasse ihn machen! 


Die Gäste, die zu uns kommen, haben von sich aus schon eine bestimmte Denkweise und Sensibilisierung für Nachhaltigkeit. Sie fragen zum Beispiel, ob das Leitungswasser gut ist und dann trinken sie es. Die Gäste zeigen uns, was sie möchten. In Zukunft wollen wir auf gekauftes Wasser in Flaschen verzichten. 


WLAN ist natürlich nötig, wird aber gar nicht so viel benutzt, wie ich festgestellt habe.

Viele lesen Bücher, deshalb finden die Gäste in jedem Zimmer eine Auswahl an Lesestoff. Fernseher gibt es keine, es fragt auch niemand danach.

Für die Gartenbewässerung sammeln wir in einem unterirdischen Tank Regenwasser, für warmes Wasser sorgt eine Wärmepumpe. Die Seife für die Gäste wird auch biologisch hergestellt.   


luxuszeit: Und zu guter Letzt: Was macht dich besonders stolz? 


Claudio Zanini: Natürlich das, was wir hier bisher schon geschaffen haben.

Für mich persönlich ist allerdings der Weg, der Prozess dahinter, das Schönste: Neue Ideen zu entwickeln und sie zu verwirklichen.

Oscar meint, wir passen gut zusammen. Ich habe die Visionen, er macht die Kommunikation, und ein dritter Freund ist ein Macher. Er organisiert hier auch die ganzen Feste. 


Mein Mantra: Du hast eine Vorstellung, eine Idee, du musst daran glauben, dabeibleiben, sie verteidigen, aber auch wieder ändern können. 


Momentan bin ich mit dem Managing beschäftigt. Wenn alles läuft, dann plane ich vielleicht etwas Neues. Mal sehen.   


luxuszeit: Vielen Dank, lieber Claudio, für das offene Gespräch.

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Die Idee des „verstreuten Hotels“ stammt ursprünglich aus Italien, um verlassene Orte vor dem Verfall zu bewahren.
Ausblick Scudellate | Schweiz | luxuszeit.com
In der Schweiz gibt es mittlerweile zwei Alberghi Diffusi:

Im idyllischen La Casa dei Gelsi im stillen Tessiner Muggiotal fühlt man sich wie bei Freunden.


Im schönen Verzascatal speist man hervorragend im Corippo Albergo Diffuso.

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